

Zehn Jahre Literarischer Landgang
3. Juni 2025Deniz Utlu entwirft lyrisches Menschenpanorama
Als zehnter Stipendiat des Oldenburger Literaturhauses reiste der Schriftsteller Deniz Utlu im September 2024 durch den Nordwesten. Mit der Tour war für ihn ein Rollentausch verbunden, denn üblicherweise ist er als Autor unterwegs, um bei Veranstaltungen seine Bücher zu präsentieren: „Ich habe in viele Gesichter geschaut, viele Gewässer, Wolken und Felder gesehen und Vögel gehört“, berichtete er nach seiner Rückkehr „und es hat gutgetan – so sehr ich es liebe – unterwegs nicht jeden Abend bei einer Lesung aufzutreten, sondern ganz mit mir selbst ohne Blicke, Fragen und Antworten zu reisen und dabei in die Rolle des Beobachters schlüpfen zu können.“ Die Lesereise der Kulturstiftung Öffentliche Oldenburg beendete diesen Rollentausch, denn vom 4. bis 11. Mai 2025 stellte Deniz Utlu im Oldenburger Land den Text vor, der durch seine herbstliche Erkundungstour angeregt wurde. Die Veranstaltungsorte entsprachen den Stationen, die er schon bei seiner ersten Reise besuchte: Cloppenburg, Jever, Seefeld, Delmenhorst, Wilhelmshaven, Westerstede und Oldenburg.

Gemeinhin geht Deniz Utlu auf Lesereise, wenn ein neues Buch von ihm erschienen ist. Mit der Veröffentlichung ist die Arbeit am Text zwangsläufig abgeschlossen. Beim Landgang verkehrt sich diese Reihenfolge. Alle Beiträge werden bei den Lesereisen schon vor ihrer Veröffentlichung zurück in den Nordwesten getragen, denn nur alle fünf Jahre gebe ich die durch das Projekt entstehenden Texte in einer Anthologie beim Wallstein Verlag heraus. Diese Verzögerung nahm Deniz Utlu zum Anlass, auch ganz aktuelle Geschehnisse wie den Tod eines jungen Mannes in Oldenburg in der Nacht zu Ostersonntag in seinen Landgang-Text aufzunehmen. Bei allen Lesungen sprach ich mit ihm über diesen Text, den er sogar während unserer Lesetour noch umformulierte und ergänzte. Das Reisestipendium bekam er als zehnter Stipendiat zugesprochen. Im Frühjahr 2026 erscheint das Buch, das neben seinem Beitrag auch die literarischen Rückmeldungen auf das Oldenburger Land von Jan Brandt, Iris Wolff, David Wagner und Judith Kuckart veröffentlicht.
Deniz Utlu hat zum Literarischen Landgang ein mehrteiliges erzählendes Langgedicht mit dem Titel Panorama einiger Menschen aus meiner Heimat im September geschrieben. Das Eingangsgedicht kreist um die Geschichte des Königshauses Hannover. Von dieser Stadt, in der Utlu aufgewachsen ist, führt es über Bremen nach Oldenburg und ins Oldenburger Land. Früh im Text stellt Utlu einen Bezug zu zwei bedeutenden Schriftstellerkollegen her: Nâzım Hikmet (1902 bis 1963) gilt als Begründer der modernen türkischen Lyrik. Aras Ören, der seit 1969 als Schriftsteller, Journalist und Schauspieler in Berlin lebt, reagierte bereits in den 1970er Jahren literarisch auf ihn. Mit Hikmets Mitteln portraitierte er in einem Versroman Menschen in der Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Zu jeder Straße im Oldenburger Land konnte Deniz Utlu kein Gedicht schreiben, doch jeder Station des Landgang-Projekts widmete er ein Teilgedicht seines Poems. Hikmet habe er während der ersten Tour, der Erkundungsreise, im Reisegepäck gehabt und den türkischen Lyriker unterwegs als Gegenüber wahrgenommen, berichtete er bei den Veranstaltungen im Mai. Ganz mit sich selbst ist er im Herbst 2024 also doch nicht gereist.
„menschen einer zeit auf blaupapier ins gedächtnis geschrieben / von menschen in einer anderen zeit / ein panorama der menschen meiner heimat“, formuliert Utlus Langgedicht. Ein schöner Zufall wollte, dass er diese Zeilen am 8. Mai in Delmenhorst im Haus Coburg inmitten eines Panoramas vortragen konnten. An drei Seiten des Veranstaltungsraums ist dort über einer dunklen Holzvertäfelung auf weißem Grund als Umrissdarstellung ein Panorama aus Architektur, aus Gebäuden an die Wand gebracht, die für Delmenhorst prägend sind. In den dunklen Umrisslinien sah Deniz Utlu eine Entsprechung zum Begriff des Blaupapiers in seinem Langgedicht. Sein lyrisches Panorama folgt nicht dem Anspruch, die Umrisse der Menschen aus dem Nordwesten auszumalen. Der Kürze seiner Reise wegen – nur einen Tag verbrachte er auf jeder Station – bleiben seine Beschreibungen an der Oberfläche, auch wenn seine Betrachtung alles andere als oberflächlich ist. Nicht nur das vom Nordwesten inspirierte Langgedicht, sondern alle eigenen literarischen Texte versteht der Autor als Erinnerungsarbeit.
Vom Eingangskapitel schlägt der Landgang-Text über das Königshaus Hannover eine Brücke nach Wilhelmshaven. Dort lässt Deniz Utlu uns Karl Unkenboldt begegnen, einem 80-jährigen ehemaligen Seemann. Als Kind, so entwirft es das Poem, hat er auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs gespielt. Städte wie Wilhelmshaven, schreibt Utlu, tragen in ihrem Zentrum das Nichts, wo andere Städte ihre Geschichten tragen. Dort jedoch ist der Krieg lange vorbei. Für Fatime aus Syrien, die im Teilgedicht zu dieser Station ebenfalls auftritt, ist er ganz nah. Sie hat ihren Mann und ihren Sohn verloren. Sie vermisst ihre Tochter. Sie ist allein in Wilhelmshaven. Als sie zu einer Hochzeitsfeier eingeladen wird, gibt sie als Geschenk für die Braut den einzigen Gegenstand ab, der sie noch mit ihrer Familiengeschichte verbunden hatte. Weil sie ohnehin alles verloren hat? Weil sie weiß, dass ihre Erinnerung nicht an Gegenstände gebunden ist? Diese große Geste der Liebe findet Raum im zehnten Teilgedicht, dem Abspann, der „Allerzeit Jederorts“ überschrieben ist.
Das Poem Deniz Utlus entspricht mit seinen 50 Seiten einem Zehntel des Umfangs von Hikmets Langgedicht. Auch deren Vortrag beansprucht jedoch etwa eine Stunde Lesezeit. Weil wir dem Gespräch über das außergewöhnliche Literaturprojekt viel Raum geben wollten, trug der Schriftsteller bei den Lesungen von Cloppenburg bis Westerstede jeweils nur wenige Teilgedichte vor. So blieb unsere Unterhaltung lebhaft, weil wir sie von Station zu Station weiterentwickeln und mit neuen inhaltlichen Schwerpunkten versehen konnten. Einzig zum Abschluss in Oldenburg wurde zulasten unserer Redezeit der komplette eindrucksvolle Text vorgestellt. Wie gut, dass er im Frühjahr 2026 zusammen mit den Landgang-Beiträgen von Jan Brandt, David Wagner, Iris Wolff, und Judith Kuckart veröffentlicht werden kann. Denn auch wenn diese Texte inhaltlich im Oldenburger Land verortet sind, weist ihre literarische Qualität doch weit über die Region hinaus: Die Literatur von Deniz Utlu ist universell und welthaltig. Sie verdient weit mehr Leserinnen und Leser, als Gäste die sieben Lesungen besuchen konnten.
Oberes Bild: Deniz Utlu in Jever, Foto: Monika Eden
Bild links: Deniz Utlu und Monika Eden bei der Lesung in Oldenburg, Foto: Gabriele Mesch
Autor dieses Beitrags

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